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Tuesday, 5. October 2010
Der mystische Hahnenschrei — Proust, die Bibel und die Zeichen. — Von Marcel Albert [ad usum Delphini]
dieter
08:21h
Die Frage, wie Proust die so gerühmten Bibelkenntnisse erworben hat, lässt sich leicht beantworten. Eine unvergleichlich größere Rolle als die Literatur spielte für Prousts Bibelkenntnisse die Kunstgeschichte. Im März 1897 entdeckte er den englischen Kunsthistoriker John Ruskin, dessen Bücher „The Bible of Amiens“ und „Sesame and Lilies“ er später übersetzen sollte. Vor allem Ruskin verdankte Proust seine Liebe zur Kunstgeschichte und seine Kenntnisse der christlichen Ikonographie. Ruskin benutzte zahlreiche Bibelzitate. Seine „Bible of Amiens“ enthält ein langes Kapitel über die Bedeutung der Heiligen Schrift. Daher interessierte sich auch Proust für die Bibel und bat seine Freundin Anna de Noailles, ihm eine Bibelübersetzung zu empfehlen. Im Vorwort zu seiner Übersetzung der „Bible of Amiens“ gab Proust dann an, „die Bibel benutzt“ zu haben: „Jedes Mal, wenn Ruskin in die Konstruktion seiner Sätze als Zitat oder häufiger noch als Anspielung eine Erinnerung an die Bibel einfügt, so wie die Venezianer in ihre Gebäude die sakralen Statuen und wertvollen Steine, die sie aus dem Osten geholt hatten, einfügten, habe ich versucht, die Stelle genau zu belegen, damit der Leser, wenn er die Veränderungen erkennt, die Ruskin den Versen antut, um sie sich anzueignen, die immer gleiche, geheimnisvolle Chemie der originellen und spezifischen Arbeitsweise von dessen Geist wahrnimmt.“ (Préface, traduction et notes à la Bible d’Amiens de John Ruskin. Édition établie ... par Yves‑Michel Ergal, Paris 2007, 13) Ruskins hier geschilderter, sehr freier Gebrauch von Bibelzitaten sollte später auch Prousts eigene Arbeitsweise in der „Recherche“ kennzeichnen. Der polnische Joseph Czapski beschreibt Prousts Stil in der wunderbaren Vorlesung, die er seinen Mitgefangenen bei bis zu 45 Grad Kälte 1940/41 in russischer Kriegsgefangenschaft hielt, mit den Worten: Prousts „Satz [...] ist verschachtelt, angefüllt mit Parenthesen, und Parenthesen in den Parenthesen, mit den zeitlich entlegensten Assoziationen, mit Metaphern, die neue Parenthesen und neue Assoziationen nach sich ziehen.“ (Proust. Vorträge im Lager Grjasowez, Berlin 2006, 30). Tatsächlich erleichtern Prousts wagemutige Satzkonstruktionen das Einfügen zahlreicher Zitate und Anspielungen. Dabei überliess Proust nichts dem Zufall. In der „Recherche“ findet sich ein Brief des Baron de Charlus an den Erzähler. Der Baron, „nicht nur Christ, wie man weiß, sondern auch in ganz mittelalterlicher Weise gläubig“ (W II 4, 649), teilt die Sorge der Mitglieder des Hochadels, „sich durch die Überlegenheit ihres Rangs und Reichtums nicht zu einem [...] Gott nicht wohlgefälligen Stolz verleiten“ (W II 3, 614) zu lassen. Charlus verehrt die Erzengel Gabriel, Michael und Raphael und besitzt die Manie, immer wieder die Bibel zu zitieren. Nach der Anrede: „Mein lieber Freund“ zitiert Charlus eingangs den hl. Paulus (Röm 11, 33b): „die Wege der Vorsehung sind unerforschlich.“ (W II 7, 166) Charlus beklagt sich bei dem Erzähler über seinen früheren Freund, den Musiker Charles Morel. Morel habe das Angebot, von Charlus gefördert zu werden, abgelehnt und es „vorgezogen [...], nicht zu Staub und Asche zurückzukehren, aus denen jeder Mensch als der wahrhaftige Phönix, der er ist, sich wieder erheben kann, sondern zu dem Kot, in dem die Viper auf dem Bauche kriecht“ (W II 7, 167). Hier nennt der Baron einige der in der Genesis genannten Strafen für den Sündenfall Adams und Evas. Gottes letztes Wort an Adam lautet: „Staub bist du, zum Staub mußt du zurück“ (Gen 3, 19), während er der Schlange droht: „Auf dem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens.“ (Gen 3, 14). Die so eingeführte biblische Schlange spielt im Brief des Barons dann eine wichtige Rolle. Charlus erinnert den Erzähler: „Sie wissen, daß mein Wappen die Devise unseres Herrn Jesu Christus trägt: ›Inculcabis super leonem et aspidem‹, zugleich mit einem Mann, unter dessen Füßen wie eine bloße heraldische Stütze ein Löwe und eine Schlange ruhen.“ Dann bekennt Charlus: „Wenn ich den Löwen in meiner Brust überwinden konnte, so ist es dank der Schlange und ihrer Klugheit geschehen, die ich allzu leichtfertig einen Fehler nannte, denn die tiefe Weisheit des Evangeliums hat daraus eine Tugend gemacht, eine Tugend wenigstens für die anderen.“ (W II 7, 167) Proust hatte sich gründlich über Wappensprüche informiert. Die Devise: „Inculcabis super leonem et aspidem“, „Du schreitest über Löwen und Nattern“ kannte er durch Ruskin. Proust wusste, dass dieser Psalmvers (90 [Vg 91], 13) im Mittelalter auf Christus bezogen wurde. Das Matthäusevangelium (10, 16) preist die Klugheit der Schlangen. Der sich so glorifizierende Charlus beruft sich am Ende des Briefes „auf die Fülle meines Glaubens und meiner Einsicht“ (W II 7, 168) und den Schutz des in der Bibel als Kämpfer genannten „Erzengels Michaels, meines heiligen Schutzpatrons“ (W II 7, 167). Tatsächlich beweist der „so angenehme, so fromme, so korrekte“ (vgl. W II 4, 50) Charlus seine Vertrautheit mit der Bibel nicht nur in diesem Brief. Auch in Unterhaltungen lässt er immer wieder Schriftzitate einfließen. Das geschieht in Kommentaren zur politischen Entwicklung: „Wenn ich lese: [...] ›Wer nicht für uns ist, ist wider uns‹, dann weiß ich nicht, ob dieser Satz von Kaiser Wilhelm oder von Monsieur Poincaré stammt“ (W II 7, 157) ebenso wie bei der Planung mondäner Veranstaltungen. Während der Vorbereitung eines Konzerts versteht es Charlus, ein Wort Jesu (Mt 13, 9.15.43; Mk 4, 9; 4, 23; Lk 8, 8; 14, 35) abzuwandeln: „Es kommt vor allem darauf an, die Personen auszuschalten, die nicht Ohren haben zu hören.“ (W II 5, 386) Hocherfreut zeigt sich der Baron über die Anwesenheit der Königin von Neapel: „so können wir sagen, daß wir für“ diesen Abend „den unbeweglichsten aller Berge versetzt haben. Bedenken sie, dass die Königin von Neapel aus Neuilly gekommen ist“ (W II 5, 390; vgl. Mt 17, 20; 21, 21; Mk 11, 23). Aber auch bei wichtigeren Fragen kleidet der Baron seine Überlegungen in Worte der Bibel: Er preist die „Prüfung durch übergroße Liebenswürdigkeit” mit dem Jesuswort (Mt 3, 12; Lk 3, 17), das sei „die einzige, die wirklich Spreu von Weizen zu scheiden vermag.” (W II 3, 778 f.) Um seinen Freund Morel wiederzugewinnen, versucht sich der Baron sogar im Gebet: „Er flehte den Erzengel Gabriel an, ihm wie dem Propheten zu verkünden, nach wie langer Zeit der Messias erscheinen werde. Dann hielt er mit einem sanften, traurigen Lächeln inne und fügte hinzu: ›Aber der Erzengel dürfte nicht von mir wie von Daniel verlangen, daß ich mich noch sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen gedulde, denn bis dahin wäre ich tot.‹ Der also Erwartete war Morel. Daher bat er den Erzengel Raphael, ihm diesen zurückzubringen wie den jungen Tobias. Dann wieder mischte er weltliche Mittel unter die geistlichen [...] und versuchte seinen Besuchern einzureden, daß, wenn Brichot ihm schnellstens seinen jungen Tobias zurückbrachte, der Erzengel Raphael vielleicht ein Einsehen haben und ihm wie dem Vater des Tobias oder durch die Heilkraft des Teiches Bethsaida das Augenlicht wiedergeben würde.“ Diese grausame Szene bereitet vor auf den Bericht über die Trennung Albertines vom Erzähler, die dieser noch schmerzlicher empfindet. Einen ersten Hinweis auf die drohende Gefahr gibt das als Hahnenschrei wahrgenommene Gurren von Tauben. Als der Erzähler und seine Freundin morgens gemeinsam aufwachen, vernehmen sie „in regelmäßigem Rhythmus einen klagenden Ruf. Es waren die Tauben, die zu gurren begannen. ›Das beweist, daß es Tag ist‹, sagte Albertine; mit fast gerunzelter Braue, als versäume sie durch ihr Leben bei mir die Freuden der schönen Jahreszeit, fügte sie hinzu: ›Es ist Frühling geworden, denn offenbar sind die Tauben da.‹“ (W II 5, 573) Überrascht stellt der Erzähler „die Ähnlichkeit zwischen“ deren „Gurren und dem Hahnenschrei“ fest. Diese Ähnlichkeit ergibt sich durch die Erinnerung an Vinteuils Septett: „Die Ähnlichkeit zwischen ihrem Gurren und dem Hahnenschrei war so tief und so dunkel wie in dem Septett von Vinteuil die Ähnlichkeit zwischen dem Thema des Adagios, das auf dem gleichen Schlüsselmotiv basiert wie der erste und der letzte Satz; doch unterscheidet es sich so stark durch Tonart und Rhythmus, daß Laien, wenn sie ein Musikwerk von Vinteuil aufschlagen, mit Staunen feststellen, daß alle drei Sätze auf den gleichen vier Tönen aufgebaut sind, die man im übrigen mit einem Finger auf dem Klavier anschlagen kann, ohne irgendeine der drei Melodien dadurch wiederzufinden. So war auch dieses von den Tauben aufgeführte melancholische Tonstück eine Art Hahnenschrei in Moll, der nicht zum Himmel aufstieg, sich nicht vertikal erhob, sondern, regelmäßig wiederkehrend wie ein Eselschrei, in weiche Süße gehüllt, von einer Taube zur anderen auf einer gleichen horizontalen Linie weiterlief, nie aber sich nach oben wandte, nie seine der Ebene verhaftete Klage in jenen freudigen Appell verwandelte, den so viele Male das Allegro des Eingangssatzes und das Finale ausgestoßen hatten. Ich weiß, daß ich in diesem Augenblick das Wort ›Tod‹ aussprach, als müsse Albertine sterben.“ (W II 5, 573 f.) Und wie in der Szene, während der Charlus bei den Verdurins verraten wird, folgt auch hier auf den Hahnenschrei ein angedeuteter Kuss: „Als ich sah, daß Albertine mich von sich aus nicht zu küssen gedachte, und begriff, daß all dies verlorene Zeit sei, daß erst mit einem Kuß die wahren, die beschwichtigenden Minuten beginnen würden, sagte ich zu ihr: ›Gute Nacht, es ist zu spät‹, um dadurch zu bewirken, daß sie mich dennoch küßte, und wir dann einfach dabei bleiben konnten. Aber nachdem sie mir genau wie schon zweimal zuvor geantwortet hatte: ›Gute Nacht, versuchen Sie, gut zu schlafen‹, begnügte sie sich mit einem Kuß auf meine Wangen. Diesmal wagte ich sie nicht zurückzurufen. Mein Herz aber pochte so stark, daß ich mich nicht wieder hinzulegen vermochte. Wie ein Vogel, der von der einen Ecke seines Käfigs zur anderen flattert, schwankte ich unaufhörlich zwischen der Beunruhigung, daß Albertine fortgehen könne, und relativer Ruhe hin und her.“ (W II 5, 574 f.) Hahnenschrei und Kuss kündigen die unaufhaltsame Trennung des Erzählers von Albertine an. Gerade als er sich dazu entschlossen hat, ohne seine Freundin zu verreisen, teilt ihm die Haushälterin Françoise mit, Albertine habe die Wohnung am frühen Morgen endgültig verlassen. Später erreicht ihn die Nachricht, Albertine sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Während es Sommer wird, verschließt sich der Erzähler in seinem Zimmer und erlebt dort eine Leidensgeschichte, in die weitere Elemente der Passion Christi eingewoben sind. Die biblische Sonnenfinsternis (Mt 27, 45; Mk 15, 33; Lk 23, 44 f.) ersetzt Proust durch einen dramatisch eingefärbten Sonnenuntergang: „Von meinem dunklen Zimmer aus spürte ich ebenso deutlich wie früher, jetzt aber einzig auf schmerzliche Weise, daß draußen in der drückenden Luft die sich neigende Sonne die aufragenden Häuser und Kirchen fahlrot einfärbte.“ (W II 6, 96) Nach dem Berichten des Neuen Testaments (Mt 27, 51; Mk 15, 38; Lk 23, 45) zerriss in der Todesstunde Jesu der Vorhang, der im Tempel das Allerheiligste abtrennte. Jesus schrie laut auf (Mt 27, 46.50; Mk 15, 34.37; Lk 23, 46) und ein römischer Soldat durchstach ihm mit einer Lanze die Brust (Joh 19, 34). Vorhang, Schrei und Wunde finden sich auch in der „Recherche“: „Und wenn Françoise wiederkam und dabei, ohne es zu wollen, die Falten der großen Vorhänge bewegte, unterdrückte ich einen Schrei, denn in mir hatte sich eine Wunde geöffnet beim Anblick jenes Sonnenstrahls von früher, der die neue Fassade von Bricqueville l’Orgueilleuse mir hatte schön erscheinen lassen, als Albertine zu mir gesagt hatte: Sie ist restauriert.‹“ (W II 6, 96 f.) Es fehlt noch immer ein wichtiges Element des Passionsgeschichte. Als Jesus am Kreuz ruft, dass er Durst habe, reichen ihm die Soldaten einen mit Essig getränkten Schwamm (Mt 27, 48; Mk 15, 36; Lk 23, 36; Joh 19, 28 ff.) Proust verwandelt den Essig in Apfelwein: „Da ich nicht wußte, wie ich Françoise meinen Seufzer erklären sollte, sagte ich zu ihr: ›Oh, ich habe solchen Durst!‹ Sie ging hinaus, kam zurück, ich aber wandte mich heftig ab, schmerzhaft getroffen von einer der tausend unsichtbaren Erinnerungen, die in jedem Augenblick im Dunkel ringsumher auf mich niedergingen: Ich hatte soeben gesehen, daß sie [...] Apfelwein hereintrug“ (W II 6, 96). Das „Dunkel ringsumher“ unterstreicht die Dramatik und erinnert an die Sonnenfinsternis während der Kreuzigung Jesu (Mt 27, 45; Mk 15, 33; Lk 23, 44 f.) Nüchtern stellt der Erzähler fest, dass Albertine tot sei. Damit wird klar, dass Passion in diesem Fall bedeutet, sich den Tod eines geliebten Menschen zu vergegenwärtigen. Diese Feststellung macht er zu der Stunde, in der die Heilige Schrift die Passion Christi einsetzen lässt (Mt 27, 45; Mk 15, 33; Lk 23, 44): „Ich fragte Françoise, wie spät es sei. Sechs Uhr. Endlich, Gott sei Dank, wird diese schwüle Hitze abklingen, über die ich mich früher mit Albertine beklagte und die wir doch so sehr liebten. Der Tag ging seinem Ende zu.“ (W II 6, 97) Der Erzähler jedoch wird noch viel Zeit benötigen, um seinen Schmerz zu bewältigen. Bei der „Recherche“ handelt es sich um den Bericht von einer Lehre. Genauer: von der Lehrzeit eines Schriftstellers.“ (Gilles Deleuze, Proust und die Zeichen, Frankfurt/Main u.a. 1978, 7) „Lernen“, weiß Gilles Deleuze, „betrifft wesentlich Zeichen. Die Zeichen sind Gegenstand einer zeitlichen Lehre, nicht eines abstrakten Wissens. Lernen bedeutet zunächst, einen Stoff, einen Gegenstand, ein Wesen so zu betrachten, als sendeten sie Zeichen aus, die zu entziffern, zu interpretieren sind.“ (Ebd., 8) Darum „ist das Wort Zeichen [...] eines der häufigsten Wörter der Recherche [...]: Schon in den Nebenfiguren wird das sichtbar: Norpois und die diplomatische Chiffrierung, Saint-Loup und die strategischen Zeichen, Cottard und die medizinischen Symptome. Jemand kann fähig sein, die Zeichen eines Bereichs zu entziffern, aber in einem anderen Fall schwachsinnig bleiben: so Cottard, der große Kliniker.“ (Ebd.) Besonders schwer zu deuten sind die Zeichen der Liebe. Das liegt an ihrer verwirrenden Vielgestaltigkeit, die sich in der „Recherche“ „von den enthüllenden Zeichen der Lüge bis zu den verborgenen Zeichen von Sodom und Gomorrha“ (ebd., 13) erstreckt. Nur langsam lernt der Erzähler, diese Zeichen zu verstehen. Noch schwieriger als die Zeichen der Liebe sind „Eindrücke“ (ebd.) oder sinnliche Wahrnehmungen wie etwa der Genuss einer Madeleine zu entziffern. Die „Recherche“ handelt von der Zeit, die der Erzähler benötigt, um sich die Sprache dieser Zeichen zu eigen zu machen. Den Schlüssel zum Verständnis der Zeichen liefert ihm die Kunst, in der alle Zeichen konvergieren. Deleuze folgert: „alle Lehrgänge sind auf den verschiedensten Wegen bereits die unbewußte Lehre der Kunst selbst. Auf der tiefsten Ebene liegt das Wesentliche in den Zeichen der Kunst.“ (Ebd., 15) Die fundamentale Bedeutung der Zeichen für das lebensnotwendige Lernen der Menschen ist keine Entdeckung Prousts. Bereits die Bibel kennt diese Zusammenhänge. Im Neuen Testament findet sich das Wort „semeion“ 77 Mal. Jesus weist die Forderung der Pharisäer nach Zeichen zurück (Mk 8, 11 f.; Joh 6, 30). Die Pharisäer nämlich erwarten die Zeichen als Beweis. Jesu Wunder aber zeigen etwas prinzipiell Neues an. Sie wollen den Glauben nicht wecken, sondern setzen ihn voraus. Jesus verspricht das „Zeichen des Jona“ (Mt 12, 38 ff.; 16, 1-4; Lk 11, 29 f.) So wie Jona drei Tage im Bauch eines Fisches verbrachte, wird Jesus drei Tage im Grab liegen und dann auferstehen. Viele Wunder Jesu sind Zeichen, die auf das Kommen des Gottesreiches hinweisen. Jesus selbst, der fleischgewordene Logos (Joh 1, 14), „wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird“ (Lk 2, 34). Die Offenbarung schließlich schildert machtvolle Himmelszeichen, die das Jüngste Gericht ankündigen: als „signum magnum“ die apokalyptische Frau (Offb 12, 1). Bis in das christliche Mittelalter hinein blieb der Gebrauch der Begriffe Zeichen und Symbol unscharf. Augustinus prägte das Zeichenverständnis mit der klassisch gewordenen Definition: „Ein Zeichen ist ein Ding, das neben dem sinnlichen Eindruck, den es den Sinnen mitteilt, aus sich heraus etwas anderes in das Denken kommen lässt.“ (De doctrina christiana libri IV, hg. v. J. Martin, Turnhout 1962, 32). Deshalb dienen die Zeichen nach Augustinus der Belehrung. Im Gefolge von Augustinus nahm auch die Theologie des Mittelalters die Bibel nicht wortwörtlich, sondern suchte in den biblischen Texten einen versteckten Sinn: die Offenbarung Gottes. „Sie unterschied daher zwischen dem bezeichnenden Zeugnis und der bezeichneten Wirklichkeit dieser Offenbarung. Als bezeichnendes Zeugnis betrachtete sie jedoch nicht nur die in der B[ibel] enthaltenen Sprachzeichen, sondern z.T. auch die durch sie bezeichneten endlichen Sachverhalte. Daher bahnte sich die Theologie zunächst durch die Untersuchung des buchstäbl[ichen] oder gesch[ichtlichen] Sinns der B[ibel] einen Zugang zur Offenbarung. Aber darüber hinaus versuchte sie auch, das von den Sprachzeichen der B[ibel] nicht vollständig erfaßte Zeugnis der bibl[ischen] Sachverhalte im Zusammenhang zu verstehen, d.h. sich allem zu öffnen, was Gott durch die in der B[ibel] dargelegten Ereignisse, Tatsachen und Wirklichkeiten den ... Gläubigen zu verstehen geben wollte.“ (Helmut Riedlinger, Bibel I 2: Geschichte der Auslegung, in: Lexikon des Mittealters 2, 1983, 47-65, hier 47 f.) Die Deutung der in der Bibel überlieferten Zeichen soll den Christen das Geheimnis Gottes lehren. An dieser Arbeit beteiligten sich nicht nur die Theologen, sondern auch die Künstler. Der mit Proust befreundete Kunsthistoriker Émile Mâle eröffnete sein Buch über „die kirchliche Kunst des 13. Jahrhunderts in Frankreich“ mit den Worten: „Das Mittelalter hat die Kunst als eine Lehre angesehen. Alles, was dem Menschen wissenswert erschien, die Geschichte der Welt seit der Schöpfung, die Lehrsätze der Religion, die vorbildlichen Beispiele der Heiligen, die Hierarchie der Tugenden, die Mannigfaltigkeit der Wissenschaften, der Künste und der Handwerke, all dies wurde durch die Glasgemälde der Kirche oder durch Portalstatuen gelehrt. [...] Die Einfältigen, die Unwissenden, alle die, welche man ›Gottes heiliges Volk‹ nannte, lernten hier durch den Augenschein fast alles, was sie von ihrem Glauben wußten [...] dank der Kunst drangen die höchsten Begriffe der Theologie und der Wissenschaft, wenn auch verworren, bis zu den einfachsten Gemütern vor.“ (Die Gotik. Kirchliche Kunst des 13. Jahrhunderts in Frankreich, Stuttgart/Zürich 1986, 11). Mâle vertiefte diese Beobachtung durch die Feststellung: „Im Mittelalter ist jede Form, soweit es sich nicht um rein dekorative Werke handelt, die Einkleidung eines Gedankens. Es ist, als ob sich der Gedanke aus dem Inneren des behandelten Materials herausarbeite und ihm Form verliehe. Der Gedanke schafft die Form und belebt sie; Form und Gedanke sind nicht voneinander zu trennen. – Ein Werk des 13. Jahrhunderts interessiert uns selbst bei ungenügender Ausführung, denn wir spüren, daß etwas darin ist, was wie eine Seele aussieht.“ (Ebd., 12) Darum sei „die Kunst des Mittelalters [...] eine Art heiliger Schrift, deren Zeichen jeder Künstler zu lernen“ hatte (ebd., 19). Proust war mit solchen Gedankengängen vertraut. Er kannte nicht nur die ungeheuere Vielfalt der biblischen Zeichen, sondern wusste auch um die Kraft, die diesen Zeichen innewohnt. Der Hahnenschrei, ein zerrissener Vorhang, Erdeben und Sonnenfinsternis tragen „die Signatur der Notwendigkeit“. Wie eine Madeleine erwecken sie nicht „den Eindruck [...], daß sie auch und anders hätten ›ausgedrückt sein können‹.“ (Deleuze, 20). Wer sein Kreuz auf sich nimmt, die Zeit verliert und den Lernprozess der Erkenntnis nicht scheut, kann die Wahrheit dieser Zeichen entdecken. Dieser viel Zeit fordernde, stets schmerzliche Weg in die Einsicht der Zusammenhänge führt zu einer ungeahnten Freude (ebd., 23). Wie ein Kunstwerk des 13. Jahrhunderts interessiert uns die „Recherche“, weil wir spüren, dass etwas darin ist, das wie eine Seele klingt.
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